Der Handelsverband Deutschland (HDE) sieht eine große Wirkung der Branchen- und Haustarifverträge im Einzelhandel. So orientieren sich laut Verband auch zahlreiche Handelsunternehmen, die formal nicht tarifgebunden sind, an den Tarifverträgen der Branche. Insgesamt gelten die Tarifverträge in der Praxis somit de facto für aktuell mehr als zwei Drittel der Beschäftigten in der Branche.

„Die Tarifverträge im Einzelhandel sind eine enorm wichtige Richtschnur für die gesamte Branche. Sie spielen damit eine deutlich wichtigere Rolle, als die reine Statistik zur Tarifbindung auf den ersten Blick vermuten lässt“, so HDE-Hauptgeschäftsführer Stefan Genth. Zahlen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung zeigen, dass im vergangenen Jahr 23 Prozent der Einzelhandelsbeschäftigten bei einem formell tarifgebundenen Arbeitgeber mit Branchen- oder Haustarifvertrag angestellt waren. Als Ursache für die seit Jahren in nahezu allen großen Branchen rückläufige Tarifbindung sieht der HDE vor allem den verringerten Gestaltungsspielraum für die Tarifvertragsparteien aufgrund der immer weiter zuneh- menden gesetzlichen Regulierung. „Vor allem die rein politisch motivierte, sprunghafte Mindestlohnanhebung auf zwölf Euro im Jahr 2022, die ohne die Beteiligung der unabhängigen Mindestlohnkommission durchgesetzt wurde, hat viel kaputt gemacht und in den Augen vieler den Wert von Tarifverträgen in Frage gestellt. Das darf sich so nicht wiederholen“, so Genth. Insofern seien auch die Äußerungen des Bundesarbeitsministers in der vergangenen Woche kontraproduktiv. Die Politik habe sich aus der Festsetzung des Mindestlohnes herauszuhalten.

Der HDE hatte in der Vergangenheit immer wieder konstruktive Vorschläge zur Steigerung der Tarifbindung im Einzelhandel gemacht. „Es geht um mehr Flexibilität, um die formelle Tarifbindung für Unternehmen wieder attraktiver zu gestalten“, so Genth weiter. Dabei stehen zusätzliche Öffnungsklauseln in bestehenden Gesetzen, die neue Gestaltungsspielräume eröffnen, um die Passgenauigkeit und damit Attraktivität von Tarifverträgen zu steigern, im Mittelpunkt. Genth: „Die Tarifverträge müssen sich anpassen können. Digitalisierung und Künstliche Intelligenz verändern die Ausgangsbedingungen in den Unternehmen. Das Prinzip „one size fits all“ wird den Interessen vieler Unternehmen oft nicht mehr hinreichend gerecht.“ Zudem würden insbesondere mittelständische Unternehmen oft von der Komplexität der jahrzehntealten Flächentarifverträge abgeschreckt.

Der HDE setzt sich darum auch für eine modulare Tarifbindung ein. So sollen sich nicht tarifgebundene Arbeitgeber für einzelne Module, beispielsweise das Entgelt, aus einem Tarifwerk entscheiden können. „Im Einzelhandel verdient man gutes Geld für gute Arbeit“, so Genth. Der durchschnittliche Bruttostundenverdienst einer Vollzeitkraft im Einzelhandel betrug im Jahr 2023 nach der aktuellen Verdiensterhebung des Statistischen Bundesamtes 21,25 Euro. Dies entspricht im Jahr 2023 einem durchschnittlichen Monatsentgelt einer Vollzeitkraft im Einzelhandel in Höhe von 3.471 Euro, unabhängig von der Tarifbindung des Arbeitgebers. Je nach Anforderungsprofil können die Bruttostundenverdienste teils stark schwanken. So kam etwa ein Experte im Einzelhandel im Jahr 2023 sogar auf ein durchschnittliches Bruttostundenentgelt von 34,38 Euro, eine Tätigkeit mit geringerem Anforderungsprofil als Helfer im Einzelhandel wurde mit durchschnittlich 15,51 Euro brutto pro Stunde vergütet. Eine Fachkraft kam in der Branche 2023 durchschnittlich auf einen Bruttostundenverdienst von 18,42 Euro.

Strikt ablehnend steht der Verband einer Lockerung der gesetzlichen Voraussetzungen für eine Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen (AVE) gegenüber. Eine AVE stelle ordnungspolitisch einen massiven Eingriff in die Tarifautonomie und eine Einschränkung der grundgesetzlich garantierten, negativen Koalitionsfreiheit dar. (Quelle: HDE)